Weisen der Objektivation
Das Denken ist notwendig an Fiktionen gebunden, nicht nur in der Dichtung oder Kunst, sondern auch im Recht, in der Philosophie und in den Naturwissenschaften. Begriffe und Kategorien, die nicht auf Erfahrungen basieren, sind Fiktionen, die für das Denken notwendig und für das Handeln nützlich sein können, jedoch keine apriorischen Seinsgröße darstellen. Sie sind von den räumlichen und zeitlichen Kontextbedingungen, in denen sie entstehen, nicht unabhängig, sondern werden – im Gegenteil – von diesen her definiert. Die Begriffe und Kategorien des Denkens konstituieren sich erst im Hinblick auf bestimmte Denk- oder Handlungsziele. Ihre referentiellen Bezüge werden nicht vorgefunden, sondern hergestellt. Jeder Begriff ist eine Perspektive. Es gibt kein Denken, das keine Strategie hat. Denken als zweckmäßige Tätigkeit erfolgt nicht losgelöst von der jeweiligen Situation. Es geht vielmehr aus ihr hervor, um rückwirkend auf sie einzuwirken. Denken – kurz gesagt – ist Denken in Beziehung – ein »reines« Denken gibt es nicht.
Das gewöhnliche Denken ist sich seiner fiktiven Grundlagen kaum oder gar nicht bewusst. Es betrachtet das jeweils Thematisierte als objektiv gegeben. Das Nervensystem reagiert entsprechend, was zu Wahrheitsgefühlen und somit zu der Überzeugung führt, es mit einer den eigenen Organismus transzendierenden Realität zu tun zu haben. Und in gewisser Hinsicht stimmt dies auch, insofern sich Fiktionen im Handeln wechselseitig objektivieren, sodass sie schließlich als etwas erfahren werden, das nicht menschlich geschaffen wurde. Das reflexive Subjekt hat prägenden Einfluss auf die Strukturen genommen, von denen es rückwirkend selbst geprägt wird. Handelnd oszilliert es zwischen Immanenz und Transzendenz. Menschen, die sich dieser fiktiven Grundlagen der Realität nicht bewusst sind, die ihr Nervensystem als eine nicht zu beeinflussende Umwelt ansehen, kurz, Menschen, die die Subjekt-Objekt-Spaltung in praxi noch nicht überwunden haben, solche Menschen sind gewöhnlich Spielball der Symbole anderer. Anstatt sich in der von ihnen gewünschten Weise zu verwirklichen, werden sie verwirklicht. Sie kommen sich unfrei und unglücklich vor. Es ist die Wahrheit und die Realität, die sie versklavt, die sie knechtet.
Vom gewöhnlichen Denken unterschieden ist das Denken im Als-ob-Modus, das sich seiner fiktiven Grundlagen bewusst ist und diese bejaht, weil es weiß, dass es ohnehin schon immer von ihnen durchdrungen ist. Fiktionen wer-den genau so lange als faktische Referenz erfahren, wie sie nicht entobjektiviert wurden (z.B. indem man sie reflexiv durchdringt). Die unbejahte Fiktion hingegen wird vom Nervensystem nicht angenommen: das Denken sucht nach Ontologien, an etwas, an das es glauben kann. Ohne diese ontologische Fundierung gibt es keine Objektivation und also auch keine Erfahrung von Wahrheit, wie sie z.B. für das Recht, den Wissenschaftsbetrieb, die alltägliche soziale Praxis obligat ist. Ein Körper ohne Wahrheitsgefühle bewegt sich nicht. Sein Handeln ist gelähmt. Um den Körper gezielt zu bewegen, ist vonnöten, die erwünschte Fiktion bewusst zu bejahen, sie als objektiv gegeben anzusehen und nichtsdestotrotz sich ihres fiktiven Charakters bewusst zu bleiben. Gegenüber dem gewöhnlichen Denken zeichnet sich das Denken im Als-ob-Modus also dadurch aus, dass es selbst Autor der Realität für sich und andere ist. Es erlebt sich nicht als getrieben, es erlebt sich als getragen. Es ist nicht Spielball fremder Symbole, es schafft eigene Symbole.
Daher hängt selbst die Realität des Einzeldings – dem die Nominalisten im mittelalterlichen Universalienstreit noch eine objektiv existierende Seinsform zuerkannten – von der Fähigkeit des Organismus ab, sich einen Begriff, ein Bild oder ein Gefühl anzuerschaffen, der dessen Wahrnehmung ermöglicht. Insofern steht die Sphäre der begrifflichen Fiktion (oder des Glaubens) – anders als von den Nominalisten behauptet – der Sphäre der sinnlich affizierten Einzeldinge (oder des Wissens) nicht wie ein Dogma gegenüber. Vielmehr sind Einzeldinge, denen mit Recht ein Rückhalt in der Realität zugeschrieben werden kann, das organisch erhandelte Ergebnis eines Bildes, eines Zieles oder eines Glaubens, welches das Nervensystem aus einer körperlosen Fiktion in eine verkörperte Wahrheit überführt.
Fiktionen sind nicht lediglich Instrumente der Bewältigung von Realität, sondern deren Bausteine. Daher erschöpfen sich Fiktionen nicht in ihrem heuristischen Wert, sie lassen sich nach ihrer Verwendung nicht wie Krücken fortwerfen, sondern sie bilden das Gewebe jeder Erfahrung und jeder Epistemologie, die aufgrund von Perspektiven entstehen, die etwas sichtbar und damit wirklich, anderes wiederum unwirklich werden lassen. Mit anderen Worten: Die Erfahrung einer vom Nervensystem sinnlich affizierten Realität wird durch die Fiktion allererst ermöglicht. Die Schaffung einer fiktiven Perspektive ist die Bedingung der Möglichkeit der Assimilation von Wahrheit. Die Fiktion tritt hinter die Wahrheit nicht zurück; sie verschwindet nicht hinter dem, was sie erzeugt. Vielmehr ist jede für real befundene Objektivation das Ergebnis einer dem Willen oder Glauben unterworfenen Fiktion, einer im Handeln erzeugten und damit immer auch anders möglichen Perspektive, kurzum, die Verwirklichung der Wahrheit durch die Lüge.
Im Als-ob-Modus wird Wissen – d.i. die zunächst individuelle Erfahrung – intersubjektiv objektiviert. Wechselseitiges Handeln und sprachliche Objektivierungsformeln bilden die Sedimente, die im Tradierungsprozess erhärtet und sobald als etwas Naturgegebenes – nicht menschlich Geschaffenes – erfahren werden. Viele Menschen, die ihren eigenen Leib als eine allenfalls extern (z.B. medikamentös) zu beeinflussende Umwelt wahrnehmen, fällt es schwer zu verstehen, dass eine Veränderung der Fiktion nicht nur mentale, sondern immer auch strukturelle Veränderungen hervorruft, die zu den mentalen in proportionalem Verhältnis stehen.
So stellt die Methode der modernen Geschichtswissenschaft eine kontingente – d.h. auch anders mögliche – Strategie der Objektivierung subjektiver Fiktionen dar, die eine Form der Sinnbildung ist. Unterschiedliche Weisen der Sinnbildung lassen unterschiedliche historische Fakten zutage treten. Sie schaffen den Rahmen, innerhalb dessen etwas als Fakt oder als Chimäre qualifiziert wird – wobei der Irrtum von heute die Wahrheit von morgen und der Irrtum von morgen die Wahrheit von heute werden kann.
Copyright © 2016–2018 Minerva-Forscherkolleg zu Berlin e.V. All rights reserved.