Virtual Reality
Virtualität ist die Bedingung menschlicher Wahrnehmung. Das Wissen um die Virtualität hebt diese Bedingung nicht auf. Stattdessen wird die Unterscheidung von Fiktion und Realität im Moment des Erlebens vergleichgültigt. Diese Unterscheidung ist nämlich eine Verstandesleistung – eine gedankliche Extrapolation – und nicht bereits Teil der Wahrnehmung, die eine Differenz von real und fiktiv nicht kennt.
Das Wirken fiktiver/simulierter Entitäten auf unsere Wahrnehmung ist von der Klassifizierung durch den Verstand weitgehend unabhängig. (Für die Philosophen: Denken und Sein fallen nicht zusammen.) Daher schmälert es die Wirkung keineswegs, wenn der Betreffende weiß, dass es sich lediglich um eine Simulation handelt. Er kann trotzdem mit ihr umgehen, um die gewünschte Wahrnehmung, die gewünschte Immersion damit hervorzurufen, da die Wirkung auf das Nervensystem dieselbe ist.
Ein aktuelles Beispiel sind die sog. VR-Brillen. Es handelt sich um Produkt, das schon länger in Entwicklung ist, aber gerade erst für den Massenmarkt umgesetzt wird. Wer eine VR-Brille trägt, kann von seiner Umwelt nichts mehr wahrnehmen, zu sehen ist lediglich die virtuelle Umwelt aus dem Computer. Die VR-Brille verfügt über Sensoren, die das Lageverhalten des Kopfes ermitteln, sodass sich das erzeugte Bild der Kopfhaltung des Nutzers anpasst (Headtracking). So kann sich der Nutzer in der virtuellen Umgebung in derselben Weise umsehen wir in der analogen Umwelt: hebt er den Kopf, sieht er den Himmel, neigt er den Kopf, sieht den Boden usw. Es nicht nötig, dass er dazu irgendwelche Knöpfe drückt oder eine Computermaus bewegt. Es existieren auch Geräte, die erkennen, wenn der Nutzer einen Schritt nach vorne oder zurück geht und die virtuellen Bilder entsprechend dieser neuen Position anpassen. Das entscheidende Phänomen besteht darin, dass das Nervensystem des Nutzers auf die virtuelle Situation genauso reagiert, wie auf eine analoge Situation, obwohl er zu jeder Zeit weiß, dass diese Situation nur virtuell ist. Versetzt man ihn mit der VR-Brille bspw. auf das Dach eines hohen Gebäudes, lässt sich beobachten, wie vorsichtig und langsam sich die Nutzer bewegen, wenn sie sich der Gebäudekante nähern. Je näher sie der Kante kommen, desto schneller wird auch ihr Puls, ihre Hände werden feucht und ihr Atem beschleunigt sich. Obwohl sie wissen, dass sie sich nicht auf einem Dach, sondern sicher in einem Zimmer befinden, reagieren sie auf exakt dieselbe Weise, wie wenn sie wirklich auf einem schwindelerregend hohem Gebäude stünden, einfach, weil ihr Körper eine Unterscheidung von real und fiktiv nicht vornimmt.
Denn auf der Ebene des menschlichen Nervensystems sind die Bedingungen, unter denen eine Wahrnehmung auftritt, unerheblich. (Wirklich ist, was wirkt – und was wirkt, ist wirklich.) Die ontologische Unterscheidung zwischen real und fiktiv bzw. virtuell und analog, die das reflexive Bewusstsein nachträglich vornimmt, wird im Moment des Erlebens vom Körper vergleichgültigt. Die Betreffenden können sich noch so bemühen, auf die virtuelle Umgebung nicht zu reagieren, sie tun es dennoch, weil das Wissen um die Fiktion die Realität der Fiktion für den Körper nicht aufhebt.
Copyright © 2016–2018 Minerva-Forscherkolleg zu Berlin e.V. All rights reserved.