Spiel, Handlung, Wirklichkeit
Das Bewusstsein darüber, dass das, was der andere mir gegenüber als seine Natur inszeniert, keine Notwendigkeit, sondern ein Entwurf darstellt, der auch ganz anders möglich wäre, und dass dies auch auf meine Darstellung zutrifft, vermag Schamgefühle hervorzurufen, wenn ich mich nicht darauf einlassen kann, etwas, was ich in der Selbstbeziehung reflexiv entworfen habe, vor anderen als Wahrheit oder Natur darzustellen. Menschen, die sich dem verweigern, kämen sich verlogen vor, dies zu tun, weil sie davon ausgehen, Personalität würde nicht erst in der Darstellung erzeugt, sondern käme ihnen per se zu; Natur müsse nicht inszeniert werden, sondern sei das Gegenteil zur Inszenierung. All diese Annahmen haben ein metaphysisches Wissenskonzept zur Voraussetzung, dem nach Wahrheit nicht entworfen, sondern vorgefunden würde. Es sind dies Menschen, die das, was sie unbewusst von anderen (z.B. den Eltern) mitbekommen haben, darzustellen, für den Ausdruck eines Wesens, einer Natur oder eines Charakters halten, den sie selbst nicht beeinflussen könnten. Sie halten sich auf diese Weise in einem Modus der Inkompetenz und Ohnmacht und erklären sich lieber für krank, anstatt die Symptome, die sie zeigen, als Quelle ihrer Kreativität zu nutzen – sie sind Ausdruck einer vitalen Kraft.
Unglück ergibt sich aus dieser Weigerung, mich selbst zur Person zu machen, indem ich meiner Vitalität eine äußere Gestalt gebe und sie auf diese Weise reguliere. Wenn ich die – nicht selbstverständliche, weil entwickelte – Fähigkeit besitze, mich selbst zu beobachten, ich also über Reflexivität verfüge, bin ich gezwungen, mich selbst zu gestalten, um mich selbst nicht zu verneinen, denn solange ich mich weigere, meine Natur zu gestalten, bleibt das Selbst, das ich darstelle, ein fremdes Selbst. Ich erlebe mich ohnmächtig einer Realität gegenüber, die von anderen entworfen wurde, höchstens fähig, der Realität in die Augen zu sehen, nicht aber, sie zu verwerfen. Es ist dies, was die erfolgreichen Leitmilieus, die etwas darstellen, von den weniger erfolgreichen unteren Milieus, die nichts darstellen, unterscheidet; und es ist der Grund, warum die meisten Menschen ein Schamgefühl ergreift, wenn sie auf der Bühne stehen und sich angeblickt erfahren. Es ist ein Für-falsch-befinden dessen, was ich bin; ich erlebe mich nicht als Erschaffer der Welt, in die ich gewoben bin. Ich suche dann nicht die Schönheit in mir herauszustellen, weil ich sie aufgrund metaphysischer Irritationen nicht in mir zulasse; ich würde mich vielleicht sogar schuldig fühlen, der Realität, die mir vorgeschlagen wird, durch Eigensinn Gewalt anzutun.
Nur dadurch kann ich die Scham überwinden, indem ich mich auf das Spiele einlasse, meine Gegenwirklichkeit empfinde, mich antworten lasse. Erst jetzt vermag ich etwas darzustellen, bin ich wirklich lebendig und schöpferisch, sodass etwas Neues entstehen kann – ungewöhnliche Erfahrungen, die in der Form noch nicht auftraten. Die Möglichkeit der intensiven, eigentlichen Begegnung, die mich erlebnismäßig involviert, hängt davon ab. Wenn ich die Wirklichkeit dessen, was in der Beziehung, die ich zu mir selbst unterhalte, leiblich empfinde – es muss nicht gedanklich sein –, und die Erhabenheit und Unberührbarkeit meines beobachtenden Selbst gegenüber der Realitätsangebote anderer, die mich binden wollen, und wenn ich, davon ausgehend, dieselbe Form des Selbstbezugs im anderen erkenne, dass sich alle Fülle oder aber alle Leere in ihm auftut, und wenn ich spüre, dass ich in einer für den anderen unberührbaren Weise wirklich bin, so wie er selbst, und dass das unsere Spiele sind und keine Welt, vor der ich mich ohnmächtig zu fühlen brauche, sondern mit der ich es aufnehmen kann, dann erlebe ich auch den anderen in seinem echten, authentischen, eigentlichen Sein als: Gestalter. Dieser Modus, einander zu begegnen, der beide Seiten involviert, obschon sie sich des Spiels, das sie treiben, bewusst sind, wirkt nicht verunsichernd, sondern verstärkt das Sicherheitsgefühl. Es ist – anders als von Sartre (SN, Hamburg, 124) behauptet – kein Zeichen des Hochmuts, des Stolzes oder der Eitelkeit, diese Freiheit dem anderen gegenüber geltend zu machen, denn es ist die einzige Weise, die Scham zu verhindern, in dem ich die Beziehung zu mir selbst aufrechterhalte, statt in das Set des anderen hineinzufallen und auf diese Weise abhängig zu werden.
Daher ist die Spannung zu halten eine Voraussetzung dafür, Nähe zulassen zu können, ohne Angst zu bekommen – sie ist die Voraussetzung für Vertrauen. Sie verhindert, dass ich mit mir wie mit einem nicht zu beeinflussenden Ding umgehe, und ermöglicht, auch andere als Subjekte ihrer eigenen Selbstbeziehung anzuerkennen, in dem ich sie als Teil des Spiels, das ich bin, begreifen und bejahen lerne, mich nicht isoliert verstehe. Die von Sartre als »Hochmut« klassifizierte Haltung ist damit zugleich der Schlüssel für ihre Überwindung, da die Spannung zwischen mir und dem anderen immer auch Fenster zu meiner inneren Spannung ist. Der Schauspieler überwindet seine Scham nicht, indem er sich auf sich selbst zurückzieht, sondern indem er sich selbst überwindet, weil er sich auf die Bewahrheitung seiner reflexiv entworfenen Fiktion einlässt.
So kommt es, dass wenn wir einen Menschen gering schätzen, wir tatsächlich nur das Spiel, das er darstellt, gering schätzen; er selbst steht hinter der Darstellung und ist die formgebende Kraft dahinter. Ressentiments ergeben sich aus dem Entwurf, den Menschen auf sich anwenden, um eine Person zu werden, folgerichtig: ändern sie diesen, ändert sich auch ihr Erleben, ihre Wahrnehmung, die Werte, die sie vertreten und die Art und Weise, auf andere Menschen zuzugehen. Scham entsteht, wenn ich mich den durch Bewahrheitung reflexiv gewonnener Fiktionen geschaffenen Tatsachen ausliefere, mich den Gedankenformen, die sich in der Welt bewegen, hingebe und auf diese Weise auf ein reaktives Dasein reduziere. Ein Schauspieler darf die Tatsachen, die ihm angeboten werden, nicht akzeptieren, um eine innere Form zu finden. Ich muss meine eigene Schönheit erkennen, sie aus meinem Unbewussten herausarbeiten, und schließlich mutig genug sein, sie vor anderen darzustellen, wozu es Eigensinn braucht.
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