rinascita & oumo universale
Das Ideal der Renaissance war der uomo universale. Humanisten waren Philologen, Historiker, Theologen, Rechtsgelehrte, Astronomen und Ärzte zugleich. Künstler waren gleichzeitg Maler, Bildhauer, Architekten, Dichter, Musiker und Diplomaten. Das neue Individuum war nicht spezialisiert auf wenige Teilbereiche, weil es nicht dem Irrglauben anhing, dass es sich zur Erlangung von Virtuosität spezialisieren müsse. Dabei bezog sich der freie, kreative Richtungswechsel nicht nur auf wenige Genies, sondern war fest in der Gesellschaft verankert. Von allem etwas zu verstehen, jedem Gebiet geöffnet zu sein, der uomo universale war im Italien der Renaissance ein selbstverständlicher Lebensmodus. Anders als in den Epochen davor und danach wurde die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht in Fächer zerhackt, sondern befruchtete alle Gebiete gleichermaßen. Im Vordergrund stand die Entfaltung der eigenen Talente; Etiketten, die das eigene Wirken in vorgefertigte Bahnen lenkten, hafteten den Leuten nicht an. Das ermöglichte eine Vollendung der Form in allen Bereichen, wie sie nie wieder in der Geschichte der Menschheit erreicht worden ist. Ein Gelehrter, der nur von einer Sache etwas versteht, war in Florenz, Mailand, Venedig oder Rom der Renaissance undenkbar.
Das Vorbild hierfür war das antike Athen. Spezialisten wurden auch von den Griechen verachtet. Virtuosität bedeutete, schlechterdings in allem virtuos zu sein, alle Gebiete zu beherrschen. Eine Kultur der Spezialisten war letztlich eine kranke Kultur. Da die akademische Ausbildung in Griechenland deutlich schlechter war als in Italien und dort zudem eine Invasion durch die Türken drohte, flüchteten griechische Gelehrte in die italienischen Städte, von denen sie nicht nur bereitwillig aufgenommen wurden, sondern die die Gelehrten teils sogar anwarben. So gelangten im 15. Jahrhundert (Quattrocento) zahlreiche antike Schriften nach Italien.
In der Antike wie im Renaissance-Humanismus war die Fähigkeit, sich angenehm zu machen und dadurch ein Gefühl von Stimmigkeit zu erzeugen noch wichtiger als der Inhalt des Gesagten, da durch ihr das Gesagte allererst gesellschaftlich relevant und damit für andere überzeugend werden konnte. Dagegen galt der Inhalt grundsätzlich als unabschließbar. Zugespitzt gesagt, war der Code, nach dem etwas als wahr oder wahrscheinlich erlebt und eingestuft wurde, ein empfindungsbezogener – daher die Schaffung von Wahrheit durch menschliche Schönheit. Nicht abgesondert war der Geist, sondern verkörpert in äußerer Schönheit, wechselseitig aufgeladen mit jenen belebenden, alle Sinne zugleich ansprechenden Energien, die das Macht- und das Selbstwertgefühl und die enorme künstlerische Produktivität der Renaissance wie der Antike möglich gemacht haben.
Diese Erlebnisweise wurde durch den Buchdruck, die Erfindung des Subjekts und dessen Verkapselung in eine privaten Innenwelt, die das Denken vom Sein trennte, beendet. Duktus, Mimik, Gestik und Charisma des Redners, das Donnern, Grollen oder Schmeicheln der Stimme wurden zweitrangig, die Information rückte nach vorn. Die Sinne – vor allem das synästhetische Zusammenspiel der Sinne – zogen sich auf sich selbst zurück und die Welt wurde »lesbar«. Diese Entfremdung, in der der Gedanke nicht mehr körperlich gegenwärtig ist, hält bis heute an – sie wurde durch die Einführung der digitalen Medien sogar noch verstärkt –, es ist daher nicht leicht, die Kraft, das Blut und die Vitalität, das räumlich-körperlich-sinnliche Erleben, kurz: die Ordnungsformen des Mündlichen und des Sozialen, die damals üblich waren, zu verstehen.
Im Italien der Renaissance war die Individualität hoch entwickelt: die Fülle an Porträts, Statuen, Medaillen, Biografien und Briefen hatte nirgendwo in Europa ein vergleichbares Maß erreicht. Jedoch unterschied sich diese Individualität deutlich von der, die im 16. Jahrhundert eingeführt wurde und bis heute anhält. Die Individualität von Florenz etwa war alles andere als weltlos, sondern erlebnismäßig ausgeweitet auf ihr soziales Beziehungsgeflecht; das Bewusstsein war nicht etwas, was permanent sich selbst und immer nur sich selbst erfuhr, einfach, weil eine Innenwelt-Außenwelt-Scheidung nicht existierte.
Wenn einem etwas nahe ging, dann spürte man das am eigenen Leibe etwa durch ein Empfinden von Enge oder Weite, Druck oder Erhebung, Starrheit oder Befreiung. Die Situation, in der man sich befand, war gekoppelt mit einem Hintergrundgefühl, das man leiblich wahrnahm, zum Beispiel indem es eine warme oder eisige Atmosphäre vermittelte, das Herz öffnete und so Entzücken hervorrief oder zusammenzog und so in Verzweiflung versetzte. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Leibesgrößen, die nicht an den äußeren Grenzen der Haut aufhörten, sondern sich durch den Raum bewegten, unmittelbar betroffen machten und den Geist deligierten – sie waren die Architekten des Geistes. Es war – anders gesagt – nicht hier der Geist und dort der Körper, sondern Körper und Geist bildeten eine Einheit im Leib.
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