Pragmatismus & Affektregulation
Der rationalistische Realitätsbegriff, der vielleicht stärker als jeder andere in Ohnmacht und Apathie führt, fasst Realität als eine bereits fertige, vollständige und universelle Existenz an sich auf – unabhängig von handelnden Subjekten. Die Korrektur dieser m.E. verfehlten Vorstellung von Realtität besteht darin, Realität als etwas zu aufzufassen, was im wechselseitigen Handeln überhaupt erst entsteht. Die Realität wartet nicht da draußen. Wir sehen durch kein Fenster auf die Realität. Die Realität ist kein festgelegtes Ding. Wir stehen der Realität nicht »wie durch einen Abgrund getrennt gegenüber« (Norbert Elias), sondern wir erhandeln sie aktiv. Die objektive Realität wird durch handelnde Subjekte kontinuierlich hervorgebracht. Handeln ist der Modus von Realität.
Wir können die Realität erkennen, weil sie endet nicht dort, wo unsere Haut endet. Wir können sie aber auch zum Verschwinden bringen, korrigieren und neu machen. Die Realität ist – anders als der Idealismus behauptet – keine nur gedanklich existierende Größe. Andererseits werden die stofflichen und sozialen Eigenschaften der äußeren Welt erst in konkreten Handlungssituationen als ein Dawider erfahren, sie sind also auch kein Ausdruck einer vom Subjekt unabhängigen Ontologie, sondern – im Gegenteil – das Produkt der Verbundenheit mit ihr. Subjekt und Objekt sind – um es noch einmal zu sagen – nicht verkapselt, sondern Teil eines Beziehungsgeflechtes. Dieses enthält keine ontischen Differenzen, weil es außerhalb der Situation oder Perspektive, aus der heraus wir handeln, eine undefinierte Offenheit ist. Die äußere Welt existiert nur solange und insofern, wie sie Teil der Umwelt ist, die wir aktiv konstituieren. Realität ist daher weder solipsistisch noch unabhängig vom Subjekt zu denken. Die Welt besitzt eine Widerstandskraft, nicht obwohl, sondern weil sie das Produkt vergangenen – mithin intentionalen – Handelns ist. Sie verändert sich kontinuierlich, nicht weil wir ihr ohnmächtig gegenüberstünden, sondern weil wir sie immer wieder neu erhandeln.
Ohne pragmatistische Realitätsauffassung ist ein verändertes Selbst – mithin eine veränderte Welt – weder möglich noch sinnvoll. Denn die Realität neu zu machen, das ist die Voraussetzung für Transformation. Und damit das gewünschte Bild wirklich werden kann, bedarf es einer Haltung oder Perspektive, die es vom Handeln nicht abschneidet.
Die Haltung oder Perspektive, aus der heraus wir handeln, ist – entgegen der idealistischen Vorstellung von Realität – keine bloß subjektive Erfahrung, sondern entsteht dialektisch in einem Prozess der wechselseitigen Formung von Akteur und Objekt, was zu verstehen jedoch ein weiterer Dualismus erschwert: die Trennung zwischen Selbst und Andere.
Eigene Gedanken oder Perspektiven gibt es nicht, es gibt nur die Verbindung mit bestimmten Gedanken oder Perspektiven. Diese sind nicht selbst gemacht, sondern bewegen sich als Formen oder Symbole bereits durch den Raum und pflanzen sich Menschen immer wieder ein. Daher sind die Ziele der Menschen, selbst in gebildeten Kreisen, meist einander ziemlich ähnlich. Daher überschneiden sich ihre Perspektiven bis hin zu deren weitgehenden Identität. Daher gibt es nur ein eingeschränktes Repertoire an Charakteren und Typen, denen man in verschiedenen Menschen immer wieder begegnet. Denn die einzelnen Individuen sind nicht die Urheber der Perspektiven (Gedanken, Lebensformen), die sie darstellen. Diese Ausweitung der Perspektive auf die Umwelt ist der Grund dafür, dass uns die Welt häufig wie objektiv gegeben erscheint.
Das Ich oder Selbst entsteht dadurch, indem die sozial erhandelte Realität – das sind alle Beziehungen, die Subjekte zu anderen Subjekten oder Objekten unterhalten – vom Organismus im Laufe der Entwicklung nach innen genommen, einverleibt wird. Die Vorstellung von einem Ich oder Selbst, das bereits mit der Geburt im Organismus vorhanden sei und dann mit den Jahren aufblüht, ist daher unstimmig.
Die Praxis ist eine Lebensform. Konflikte entstehen daher durch einander widersprechende Settings. Wer die Dramaturgie (das Feld oder die Form) vernachlässigt und lediglich in sich selbst sucht nach dem, was er braucht, um sich neu zu machen, ist nur bedingt erfolgreich. Wir müssen begreifen, dass jede Vorstellung, jeder Gedanke, wirklichkeits- und realitätskonstitutiv ist. Und dass sich die Dinge immer nur so verhalten, wie es die soziale Figuration, Gestalt oder Dramaturgie gerade intendiert, nicht, wie das Selbst es intendiert, denn dieses Selbst, verstanden als ein Kern tief im Inneren einer Person, dem sich ein festgefügter Charakter oder eine Persönlichkeit zuschreiben ließe, existiert nicht. Realität und Selbst entstehen situativ als Ergebnis bedeutungshaltiger, aufeinander bezogener Objekte. Der Subjekt-Objekt-Dualismus hingegen sperrt die Menschen in unsichtbare Gefängnisse, indem er sie davon abhält, den äußeren Status ihrer Perspektive – und damit ihrer Gedanken – ernstzunehmen und, wo nötig, zu verwandeln. Betrachten wir jedoch das Soziale und die durch das Soziale vorgenommenen Deutungen der Welt als den Ursprung der Ichwerdung, verschwindet die Differenz zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Welt.
Da die für das Handeln obligate Perspektive nicht auf den Einzelnen beschränkt ist, sondern objektive Realität besitzt, enthält jede Wahrnehmung Prozesse der Abstraktion. Sichten wir z.B. einen archäologischen Fund, machen wir aus ihm bereits etwas ganz anderes, als er ursprünglich war. Wir verankern ihn in eine Beziehungsstruktur, die sich viel-leicht gänzlich von der unterscheidet, aus der er ursprünglich hervorgegangen ist und die ihm seine spezifische Bedeutung gegeben hat. Jede Kontur, jedes Objekt oder Ereignis ist ein Produkt bestimmter vorbewusster Anstrengungen, die ihrerseits auf sozial konstituierten Empfindungen, Bedürfnissen, Perspektiven basieren. Daher gibt es keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Interpretation. Jede Wahrnehmung wählt bestimmte Elemente aktiv aus, indes sie andere ausblendet, was weder automatisch noch nach Belieben geschieht, sondern abhängt vom jeweiligen Problem- und Handlungskontext. Je nachdem in welchen Kontext wir das Objekt oder Ereignis vorbewusst setzen, entstehen unterschiedliche Realitäten, die alle objektiv beweisbar sind, denn auch der Beweis ist ein Produkt vortheoretischer Kategorien, in denen wir denken, und der Methoden, mit denen wir die Dinge ordnen.
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