Mythos als Wissensform
Das seit dem 16. Jahrhundert in die Selbstwahrnehmung des Menschen sich einschreibende Innenweltdogma schuf die Voraussetzungen dafür, Mensch und Technik nicht als zusammengehörig, sondern die Technik als das Andere des Menschen und der Natur anzusehen. Die Erniedrigung des Leibes zum Fremdkörper des Geistes markiert die Urszene des sich durch die Jahrhunderte tradierenden Körper- und damit Technikverständnisses. Die Entfremdung vom spürenden Leib begann als Entfernung; der Abstand zum eigenen wie zum Körper anderer Menschen wurde größer – als würde der Geist wie durch ein optisches Medium von fern auf einen abstrakten Gegenstand sehen.
Der virtuelle Raum ist unendlich geworden, umgekehrt der Kontakt zum eigenen Körper wie zur Welt verschwunden. Er ist eine Projektion des ortsinvarianten Geistes, dem es egal ist, auf welcher Maschine er läuft. Das macht den Computer zum Gegner des Leibes: er ist die Wiederholung des cartesischen Selbstverhältnisses, das – wie ich zu zeigen versucht habe – (auch im poststrukturalistischen Diskurs) von ungebrochener Aktualität ist. So muss nunmehr der Geist (in Matrix: der Maschinengott) den Körper (in Matrix: die gezüchteten Menschen) unter Kontrolle bringen, durch Prothesen und Implantate verfügbar machen oder indem er ihn gleich ganz aus dem Erleben tilgt. Die Affekte (passions) sterben ab, Nähe wird unerträglich, der Blick auf sich selbst und die Welt durch und über Medien erhält den Vorzug. In der virtuellen Umgebung verschwindet der authentisch erlebte Körper, unter Einbuße seiner leiblichen Lebendigkeit, nunmehr repräsentiert durch Programmcodes, die ihrerseits – in einem leeren Spiel – immer nur auf andere Codes verweisen. Die Distanzierung vom eigenen Leib ist ein ›Absterbenmachen‹ seines Ausdrucks, seiner Vitalität, seiner Spontanität.
Die Ökonomie sollte den Menschen folgerichtig auf seine Arbeitsfähigkeit reduzieren. Wie in Matrix wird der Mensch zum Energielieferanten – als wäre das ›Wesen‹ des Menschen maschinenhaft. Dieses System besteht bis heute fort, auch wenn die verbreitete Rhetorik darüber hinwegzutäuschen versucht. Der Körper wird nicht mehr ausgebeutet wie in der Industrialisierung, stattdessen wurde die Arbeit durch Informatisierung und Computerisierung entsinnlicht.
Dabei macht es keinen Unterschied, ob Technik eingesetzt wird, um die eigene Existenz zu virtualisieren, also körperfrei zu machen, oder ob man sie einsetzt, um den Körper mit Prothesen auszustatten oder technobiologisch zu verändern. Die Haltung ist in beiden Fällen die gleiche: der Körper gilt als Fremdkörper des Geistes.
Selbst wenn heute kaum noch jemand die cartesische Selbstauffassung intellektuell teilt, setzt sie sich doch im Selbstgebrauch fort wie auch in der Übertragung des Fremd-Eigen-Schemas von Welt und Selbst bzw. Körper und Denken auf den Bereich von Technik und menschliche Natur. Die Form, welche Technik annimmt, wird durch dieses Schema ebenso bestimmt wie die Weise, wie wir Technik auf uns selbst anwenden. Mit Kapp behaupte ich, dass der Grund hierfür darin besteht, dass die Technik die unbewusste Projektion unseres eigenen organischen – und damit immer auch geistigen – Selbstverhältnisses darstellt. Und mit Latour habe ich dafür argumentiert, dass dieses im Außen verkörperte Selbstverhältnis die Bedingung unseres Tuns ist, weil es unser Erkennen steuert, indem es mit uns ein gemeinsames Netzwerk bildet.
Seiner sinnlichen Basis beraubt, »kapselt sich [das Denken] ab, kreist in sich selbst und nennt diese Egomanie geistige Freiheit, Autarkie und Selbstgesetzgebung« . Weil leibliche Deprivation kein erträglicher Zustand ist, wurde der Körper vom Geist getrennt und — virtualisiert.
Virtualität wird zur ersten Existenzform. So erscheint der virtuelle, da nur noch im Denken repräsentierte Körper selbst als eine Fiktion. Die virtuelle Verstümmelung ist kein modernes Phänomen: Sie ist das Analogon des inneren Menschen, der seinen Körper verlassen und seine vitale Verkörperung kaltgestellt hat; sie ist die historisch konsequente Organprojektion des durch die Geschichte hindurch schrittweise purifizierten Denkens, in welchem Handlungserfahrungen aufhören, Teil der Bedeutung zu sein, und Abstraktionen an ihre Stelle treten.
Von Bedeutung ist nicht länger der Mensch, sondern allein der geistige Mensch. Der Körper wird zum toten Objekt des Geistes , der seinerseits zum Objekt referenzloser Zeichenspiele avanciert. Nicht der aus dem Schlamm (limus) der Erde gebildete Leib, sondern der aus Ton (lutum) gebildete Geist, dem die Menschen – jedenfalls glauben sie das – ihre technische Vermittlung, ihr virtuelles Abbild (simulacrum), letztlich den doppelten Menschen (homo duplex) verdanken, der an die Stelle des Urbildes tritt.
Nachdem der Calvinismus Gott in die weltlose Innenwelt des sola fide verbannt hatte, sollte das vom Körper befreite Denken einhundert Jahre später seine Funktion übernehmen. Mit Alan Turing begann nun auch die Erschaffung einer künstlichen Vernunft – der Computer-Maschine. Gott ist im Computer, der uns nun sogar noch vom Denken befreien und in den ewigen geistigen Sättigungsschlaf zu versetzen vermag – auch wenn der Extrempunkt dieser Idee wahrscheinlich eine Utopie bleiben wird.
Copyright © 2016–2018 Minerva-Forscherkolleg zu Berlin e.V. All rights reserved.