Materielle Kultur
Die Gegenüberstellung von Selbst und Oberfläche konnte nicht entstehen, solange dieses Selbst nicht verinnerlicht und zur eigenständig handelnden Kraft erklärt wurde. Der Protestantismus plausibilisierte die Vorstellung, dass das, was ich innerlich bin, mit dem, was ich äußerlich darstelle, nicht zwangsläufig übereinstimmt. Die Oberfläche wurde so jedoch zum Instrument der Verstellung, das eine konstitutive Bedeutung für mein Selbst nicht besitzt, dagegen das Selbst, für sich genommen, eine zwar unsichtbare, aber authentische Größe sei – dasjenige, worauf es eigentlich ankommt. Dieses Verhältnis von innen geschautem Selbst einerseits und äußerem Schein andererseits wurde im 16. Jahrhundert aufgrund einer – wie gesagt – protestantischen Gesinnungsethik neu verhandelt und vom 18. Jahrhundert bis heute im philosophischen Modus fortgesetzt. Nicht dass mein Selbst sich verkörpert ist von Belang, sondern dass es »aufrichtig« und »wahrhaftig« sei. Es reicht bereits aus, zu sagen, was ich innerlich erlebe: es textil zu objektivieren oder gar aufgrund von Textilien zu remodulieren ist dieser Ansicht nach, wenn überhaupt möglich, so doch in jedem Fall unwesentlich.
So wird das eigene Selbst zum inneren Gefängnis, dessen Zustände nicht theatral designt, sondern als vorhanden akzeptiert und mit Ohnmacht erlebt werden; sie werden auf einen Kern zurückgeführt, der – so die Vorstellung – im Grunde »wahrhaftig« und im Grunde nicht zu verändern sei. Die Leute haben so viel Ehrfurcht vor dem, was sie introspektiv für »wahr« nehmen, dass sie nie etwas grundsätzlich anderes zu verkörpern wagen als das, was sie schon sind, obwohl das, was sie darstellen, sie selten zufrieden macht. Sie kämen sich nämlich verlogen vor, würden sie sich durch den gezielten Einsatz von Kleidung oder Theater auch innerlich verwandeln lassen – denn es könnte ihre »Authentizität« gefährden. Dass diese Schuldgefühle eine protestantische Konstruktion und daher wenig berechtigt sind, macht ihnen dabei wenig aus, weil dass sie fühlen, für sie bereits die nötige Eigenberechtigung und Autonomie besitzt: was sie fühlen, oder in welcher Beziehung zur Oberfläche dieses Gefühl steht, bleibt zweitrangig. Einen spielerischen Umgang mit sich selbst, ein Selbstdesign sucht man bei ihnen vergebens.
Mehr noch: sie erschrecken vor sich selbst, weil sie dieses Selbst als autonom und metaphysisch begreifen, weshalb sie sich entweder gar nicht oder aber so sehr der Selbstreflexion bedienen, dass die Folge davon eine symbolisch verschlossene Daseinsweise ist, die sich nicht in Spiel, Ritual, Symbol auflöst, sondern immer wieder nur ins Selbst zurückfällt, im Kreis dreht und droht, sie verrückt zu machen, weil sie sich weigern, sich der Welt auszusetzen. Dabei übersehen sie, dass sich ein authentisches Selbst nicht aus der Innenschau, sondern aus der äußeren Darstellung schöpft und erlernt werden muss. So wie die intime Kommunikation die höfischen Umgangsformen nicht etwa ersetzte, sondern die höfische Geste selbst zu einer Form intimer Kommunikation wurde , so bestimmen Authentizitätsmoden, was auf mich wie auf andere originell wirkt. Eine ursprüngliche Wahrheit des Selbst gibt es nicht, denn ich finde mich selbst immer nur in der äußeren Geste, im klar markierten Lebensvollzug, aus dem authentische Erlebniseffekte – als psychisches Sediment – allererst hervorgehen. Die innere Regung, die die Wahrheit der Darstellung bezeugt, wird ihrerseits durch eine überzeugende Verkörperung hervorgerufen – im Sichtbaren erst erhält sie empfindbare Statur. Die Regung allein ist ohne Gehalt, denn sie wird körperlich nicht bloß abgebildet: sie ist das Ergebnis eines kommunikativen Vorgangs – des Zusammenspiels von Verkörperung, Inszenierung und Wahrnehmung. Mit anderen Worten: Die »Seele« folgt der Form, die ich mir äußerlich auferlege. Der Forderung, ich selbst zu sein, werde ich nicht dadurch gerecht, dass ich nach Innen gehe, denn dort finde ich nichts vor, was von der äußeren Inszenierung unabhängig wäre – nichts außer Leere .
Tatsächlich aber gibt es kein autonomes Selbst, es gibt nur ein sozial situiertes Selbst. Ich erkenne mich im Spiegel erhandelter Welten, die ich mit anderen teile, nicht durch Introspektion. Das moderne Individualitätskonzept, das – wie ausgeführt – ein Erbe des romantischen ist, ist nicht verwirklichungsfähig, da es von mir fordert, etwas aus mir selbst zu schöpfen, was auf die Spiegelungen verhältnissetzender Kräfte – durch andere und anderes – angewiesen ist.
Daher rühren die depressiven Zustände vieler Leute, die ihre Vitalität zwanghaft unterdrücken und das diffuse Unwohlsein, dass daraufhin einsetzt, durch Medienkonsum (Internet, Computerspiele), selbstintendierte Informationstraumatisierung – indem sie Inhalte aufnehmen, die sie nicht assimilieren können –, aber auch durch permanentes Essen, Rauschmittel, rastlose Arbeit und andere Surrogate zu kompensieren versuchen: denn innerlich verneinen sie die Welt, aus einer tief verankerten, historisch kontingenten Martyriumsfreudigkeit heraus. Sie begreifen sich nicht nur als isolierte Individuen, ihre Trägheit und ihre Gewohnheiten als unabhängig vom gesellschaftlichen Körper, dessen Organe sie sind: mehr noch scheinen sie ihre diesseitigen Konfrontationsängste regelrecht zu zwingen, überall dort, wo sich selbst zu vergessen angebracht wäre, genau dies nicht zu tun, indem sie sich – aus einer metaphysischen Position heraus – mit gedanklichen Extrapolationen umgittern und – wie Kleidungssemiotiker – Dinge auf eine Weise abwägen, ohne sich auf sie einzulassen.
Die Vorstellung, dass Identität keine Eigenleistung von Individuen darstellt, sondern sich ereignet, dass ihr Selbst aus einer Vielzahl wechselseitig gebildeter Symbole besteht, die zuweilen einander widersprechen und mit der Welt sich wandeln, weil sie Teil der Welt sind, dass das kohärente, gleichbleibende Selbst eine wirklichkeitslose Fiktion ist, weil eine veränderte Situation immer auch zu einem veränderten Selbst führt, dass ihr Handeln weniger ihrem Charakter als dem sozialen Körper geschuldet ist, dem sie angehören, sowie dem Ort, dem sie sich aussetzen, dem Raum, in dem sie sich bewegen, der Worte, derer sie sich bedienen, den Gegenständen, mit denen sie umgehen, der Bilder, die sie betrachten und der Kleidung, die sie auf ihrer Haut tragen, ist ihnen – obwohl die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte so gedacht wurde – maximal unverständlich und unplausibel. Den historischen Ursprung ihrer Gesinnungsinnerlichkeit, aus der heraus dieses Unverständnis folgt, haben wir oben skizziert – schließlich: ihre Bewusstwerdung ist die Voraussetzung für ihre Überwindung.
So erweist sich die Gegenüberstellung von Schein und Sein, Authentizität und Inszenierung als falsche Dichotomie, denn auch Authentizität muss inszeniert werden, um als solche erkannt zu werden. Ob und in welchem Maß mein Selbst authentisch ist, vermag ich nicht bereits aus mir selbst heraus wahr-zunehmen, sondern ich muss mein Selbst mir präsentieren, um aus einer reflexiven (und damit exzentrischen) Position heraus ein authentisches oder nicht-authentisches Selbst extrapolieren zu können. Daher sind die Eigenschaften, die mein Selbst mir wie anderen darbietet, keine schon vorher vorhandene Größen, sondern mentale Zuschreibungen. Das Entscheidende daran ist, dass die Zuschreibungen die Antwort auf eine Inszenierung sind, womit die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen Sein und Schein selbst infrage steht. Ein Selbst jenseits der Darstellung, das gibt es nicht. (Die Bühne des Lebens hat keinen Vorhang.)
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