Körper, Stimme, Kinästhesie
Sowohl im Vokal- als auch im Instrumentalunterricht wird Musikern bis heute ein Selbstumgang abverlangt, der einseitig auf die Vollendung bestimmter – für sich stehender – Funktionen, Techniken und Bewegungsautomatismen aus ist, letztlich also auf die Fortführung jenen romantischen Virtuosentums, dessen ästhetisches Ideal darin besteht, die industrielle Arbeitsideologie auf den Bereich der Kunst zu übertragen und den eigenen Körper dadurch zu domestizieren, wie eine Maschine den ganzen Tag an seinem Instrument zu sitzen und zu üben. Wer singen lernt, übt sich in der richtigen Technik sowie in Stilmitteln, die ihn befähigen sollen, seine Stimme künstlerisch einzusetzen. Dabei wird die Stimme wie die Sprache als Gegenstand gesehen, den man – mit Roland Barthes zu sprechen – »nur durch das glaubt erfassen zu können, was er vermittelt« – etwa Gefühle, Bedeutungen oder Werke. Die Materialität der Sprache selbst, die über bloße Semantik hinausweisende signifiance der Stimme gerät nicht in den Blick.
Daher besteht die Gesangsausbildung bis heute weniger in der Körperarbeit, als in der resonatorischen Bildung des für geeignet befundenen stimmlichen Materials. Das Ergebnis sind Sänger und Instrumentalisten, die ihren Körper selbst als »Instrument« beziehungsweise »Werkzeug« betrachten, dass heißt als Objekt eines reflexiven Ich-Selbst, die die Nähe zum Körper eigentlich nicht herstellen, den Körper daher auch nicht selbst als Subjekt von Wissen erlebt, sondern allenfalls als Träger von Wissen, das das Bewusstsein durch mechanisches Repetieren in Bereiche des Körpers hineinprogrammiert – visuelle, akustische und haptische Informationen, von denen das Körpergedächtnis durchdrungen sein muss, damit sich das Klavier, die Geige oder der Bass bedienen oder der Song singen lässt. Wenn heute von »Körperbewusstsein« die Rede ist, geht es den Leuten in der Regel nur darum, den Körper durch Einsatz spezieller Methoden verfügbarer zu machen. Diese Verfügbarkeit gilt als Bedingung für künstlerische Leistungsfähigkeit. Die Stimme wird – anders gesagt – nicht an den Körper gebunden, sondern gegen den Körper technisch forciert, mit dem Ergebnis, dass es stilübergreifend gerade bei fortgeschrittenen Sängern immer wieder zu Heiserkeit oder dem völligen kurzzeitigen Verlust der Stimme kommt. (Das trifft im gesteigertem Maße auf den Autor zu, dessen Stimme mal verhaucht, mal gequetscht, mal zu nasal oder einfach nur heiser klingt.) Sogar Startenören wie Rolando Villazón passiert es, dass sie Konzerte abbrechen müssen, weil nach zwei oder drei Mozart-Arien plötzlich die Stimme verschwindet.
Die Probleme, die sich bei einer Vielzahl von Musikern im Laufe ihrer Karriere auftun, zeigen, dass der Leib und der körperliche, quasi-erotische Appetit, der aus ihm folgt, gerade für Musiker nicht hintergehbar ist. Wenn sich Sänger oder Instrumentalisten auf einem toten Punkt befinden, in ihren Übungen also nicht weiter kommen, hat dies selten mit mangelndem Talent zu tun, sondern damit, dass ihr Nervensystem den Vorgang als schädlich interpretiert. Die gesunde Reaktion besteht in Widerstand und Symptombildung. Weil diese Weise des Selbstumgangs jedoch in unserem Kulturkreis üblich ist, wird sie nicht weiter hinterfragt und — in den Hintergrund des Bewusstseins abgedrängt.
Den historischen ›Sündenfall‹, der zu dieser Körper- beziehungsweise Selbstwahrnehmung geführt hat, habe ich bereits anderswo skizziert. Er besteht in der – philosophisch plausiblen, aber leider trotzdem falschen – Annahme, zu glauben, weil sich das Ich-Bewusstsein reflexiv auf seinen Körper beziehen kann, das Ich-Bewusstsein nicht mit seinem Körper identisch sei.
Erfahre ich mich nicht als mit meinem Körper identisch, habe ich meinen Körper von der Erfahrung meiner Selbst ausgeschlossen – der europäische Normalfall. Die vorherrschende Erfahrung ist ein Bewusstsein des Ich-Selbst anstelle eines Bewusstseins des Leibes oder gar einer Intelligenz, die dem Organismus selbst innewohnt. In unserem Kulturkreis – in dem das schizoide Erfahrungsschema üblich ist – wird die Erfahrung des eigenen Körpers als Leib zwar intellektuell deklamiert, aber selten vollzogen. Denn wenn meine Körpererfahrung mit meiner Selbsterfahrung – das heißt: mit dem, was ich in einem substantiellen Sinne bin – in eins fällt, kann ich ihn nicht instrumentalisieren – selbst wenn ich wollte –, weil um mir selbst Gewalt antun zu können, muss ich mich selbst zum Objekt machen.
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