Gesundheit und Selbstwerdung
Abraham Maslow nahm aufgrund seiner Befunde an, dass die kulturelle Bildung von Menschen nicht aufgrund von Triebunterdrückung, sondern aufgrund befriedigter Bedürfnisse geschieht. Nicht die Unterdrückung dessen, was ich empfinde, sondern die positive Entwicklung zu etwas hin verursacht Kultur. Ich verzichte freiwillig auf die einfache, kurzfristige Bedrüfnisbefriedigung, um höhere Lust zu erzielen, die einen Sinn hat und die ein triebhafter Teil meiner Natur ist – wie jede andere Lust. Ich übe Klavier- oder Geigespielen nicht, weil ich mich unterdrücken will, sondern weil ich mich befreien will: meine Sehnsucht danach folgt einer inneren Notwendigkeit – meiner Natur. Kultur ist ein natürliches Phänomen; sie widerspricht nicht meinem menschlichen Instinkt, sondern ist Ausdruck desselben. Ich gestalte Natur, um das fremde Selbst, das mir andere aufgaben, ablegen zu können und auf diese Weise dem ähnlich zu werden, wie ich eigentlich gemeint bin.
Ich bin überhaupt nur dann ein Mensch, wenn ich danach strebe, über das, was ich darzustellen bisher gelernt habe, hinauszuwachsen. Solange ich es so halte wie die meisten Leute und lediglich vor mir her vegetiere, bin ich eigentlich gar keine Person, sondern klimaabhängig bestimmt durch äußere Ereignisse, um die ich mich geschehen lasse; eine Blume, die aufgeht wie die Sonne fällt – ohne Eigenbewegung. Person sein heißt: Gestalter werden; menschliche Natur selbst zu modellieren; eine Zäsur zu setzen und etwas Neues zu wagen und damit dem, was war, Hohn zu sprechen. Sich harmoniesüchtig mit dem arrangieren, was man zurzeit darstellt, heißt: Entwicklungsstopp. Entwicklung findet nur an Widerständen statt, in dem Bestreben, an Grenzen zu gehen und dabei das eigene Leben zu riskieren. Wenn ich mich designe, mich ausschöpfe, handle ich nicht wider die Natur, sondern verwirkliche sie. Solange ich darauf verzichte, bleibt meine Menschlichkeit, meine Einzigartigkeit und meine Personalität lediglich eine Möglichkeit und ich lebe wie ein Tier.
Dass das Gehirn mit seiner Entstehung zunächst Potenzial im Überfluss zur Verfügung stellt, wurde neurowissenschaftlich nachgewiesen. Die Kontextbedingungen führen dazu, dass ein nicht unerheblicher Teil dieser Strukturen bereits in den ersten Lebensjahren wieder abgebaut wird. Dieser Prozess folgt nicht zwangsläufig, sondern ist das Ergebnis dessen, was ich erlebe. Erleben ist nicht körperlos, sondern zellulär repräsentiert. Daher brauche ich übergeordnete Ideen, denn erst aus ihnen beziehe ich die Vitalität und die Kraft, der zu werden, der ich bin; ohne diese Ideen, die das Bestehende transzendieren, verliere ich an Kraft und werde lebensschwächer. Dieses Streben ist im Menschen biologisch verankert, weshalb z.B. Ali Hameed Almaas auch vom »Erleuchtungstrieb« spricht. Um sich zu entfalten, um etwas zu lernen und neue neuronale Netze anzulegen, braucht das Gehirn etwas, was über seine bestehenden Strukturen hinausweist. Daher produzieren Menschen nicht nur ständig neue Verknüpfungen im Gehirn, sondern im Lauf der Evolution und in den ersten Lebensjahren auch völlig neue Hirnareale: Schichten, die die darunter liegenden transzendieren.
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