Formen der Verdoppelung
Das seit dem 16. Jahrhundert in die Selbstwahrnehmung des Menschen sich einschreibende Innenweltdogma schuf die Voraussetzungen dafür, Mensch und Technik nicht als zusammengehörig, sondern die Technik als das Andere des Menschen und der Natur anzusehen. Die Erniedrigung des Leibes zum Fremdkörper des Geistes markiert die Urszene des sich durch die Jahrhunderte tradierenden Körper- und damit Technikverständnisses. Die Entfremdung vom spürenden Leib begann als Entfernung; der Abstand zum eigenen wie zum Körper anderer Menschen wurde größer – als würde der Geist wie durch ein optisches Medium von fern auf einen abstrakten Gegenstand sehen.
Virtualität wird zur ersten Existenzform. So erscheint der virtuelle, da nur noch im Denken repräsentierte Körper selbst als eine Fiktion. Die virtuelle Verstümmelung ist kein modernes Phänomen: Sie ist das Analogon des inneren Menschen, der seinen Körper verlassen und seine vitale Verkörperung kaltgestellt hat; sie ist die historisch konsequente Organprojektion des durch die Geschichte hindurch schrittweise purifizierten Denkens, in welchem Handlungserfahrungen aufhören, Teil der Bedeutung zu sein, und Abstraktionen an ihre Stelle treten.
Die Übersetzung von Materie in Transmaterie, die in der Sehnsucht nach Virtualität zum Ausdruck kommt, setzt nicht erst im 20. Jahrhundert ein, sondern fand bereits in der Romantik eine starke Ausprägung. Dabei ist die Verdoppelung der eigenen Existenz in eine reale und eine virtuelle bereits im religiösen Schema des 16. Jahrhunderts angelegt. Die reale Existenz einer virtuellen unterzuordnen und dabei den Leib als etwas Zweitrangiges lediglich instrumentell zu gebrauchen, ist keine Krankheit unserer Zeit, sondern die Fortsetzung einer historischen Linie.
Die Virtualisierung, die den sinnlichen Vollzug als wertlos abtut, die Handlungserfahrung also nicht mehr als zwingenden Bestandteil von Bedeutung anerkennt, tritt an die Stelle der vormals gängigen Praxis, das gewünschte Selbst als handelnder Leib zu verkörpern. So erweist sich die Reformation als Reform jeglicher Medialität; ohne die Verneinung des Leibes als Modus des Selbstseins wäre nicht nur der Buchdruck, sondern auch der Computer als Kommunikationsmedium undenkbar gewesen. Nirgends deutlicher als in der Geschichte der technischen Medien seit dem 16. Jahrhundert tritt das Prinzip der Organprojektion zu Tage. Der allmähliche Verlust des Leibes als Form des Selbst- und Weltverhältnisses hat die Verkörperungsform zunehmend abstrahiert – zunächst durch Verdrängung bildlicher Darstellungsformen aufgrund der Beförderung der Schriftkultur durch den Buchdruck, dann durch die Einführung digitaler Medientechniken wie dem Smartphone.
Wir erfassen uns nicht anders als in der Technik, in der wir uns spiegeln. Das ist der Grund, wes-halb unsere Körper zu Objekten werden, wenn die Technik, mit der wir umgehen, unsere sinnlich wahrnehmbare Leiblichkeit und unseren Eigensinn unterläuft und so unsere Erfahrungsfähigkeit behindert. Selbstverständlich wird heute kaum noch jemand ernsthaft behaupten, das reflexive Nachbewusstsein könne »keineswegs aus den bewegenden Kräften der Materie abgeleitet […], sondern [nur] durch einen besonderen Akt geschaffen« werden; Personalität ist eine Eigenschaft des biologischen Körpers, daher lässt sie sich nicht von ihm abziehen, wie eine Software von der Hardware abgezogen werden kann – aber so sehr sich bereits Johann Georg Hamann darüber lustig machte, ist das, was sich bis auf den heutigen Tag fortschreibt, die Weise des Gebrauches des eigenen Leibes, die aus der ontischen Spaltung von Welt und Selbst sich ergab.
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