Cyberfakte & Sozionik
Da Eigenschaften keine gegebenen Größen sind, sondern Beziehungsprodukte (infolge des Umgangs, der Deutung, der Praxis, des Kontextes), ist die Dämonisierung von Technik kein gangbarer Weg zur Beschreibung der sozialen Wirklichkeit. Durch sie wird jedoch die Angst geschürt, dass die Programmcodes der Heinzelmännchen, die unsere Beziehung zur Technik und damit – wie wir gezeigt haben – zu uns selbst figurieren, auch in unserer Welt nur selten offengelegt werden. Dies ist auch nicht zu erwarten, da es wirtschaftliche Nachteile für den Entwickler mit sich bringen würde. In den meisten Fällen existiert aber nicht einmal eine Beschreibung der Handlungslogik und Motive technischer Applikationen, sodass ihnen vonseiten der menschlichen Aktanten kaum Vertrauen entgegengebracht wird. Kaum jemand ist bereit, sich einer Schattengesellschaft oder ›Blackbox‹, die unsichtbar im Hintergrund aktiv ist, anzuvertrauen, denn was sich weder beobachten noch nachvollziehen lässt, wird tendenziell als gefährlich eingestuft. Dies ist auch dann der Fall, wenn die im Hintergrund oder verdeckt ablaufenden Dienste zugleich eine Entlastung darstellen.
Leibsein heißt Sichtbarsein; das Ende des privaten Innenraums beginnt mit dem eigenen Leib. Da-her haben Protestanten, Philosophen und Computerpioniere versucht, ihn in der introspektiven Verdopplung zu überwinden. Das Produkt dieses philosophischen Größenwahns ist der Begriff des Privaten, dessen Ursprung die Metapher des geschlossenen Raumes ist. Die Brutkammer, durch die sich der Geist der virtuellen Vermittlung anheimgab, zog als Gespenst durch die Jahrhunderte und wird nunmehr als Ding oder Sachverhalt zum Gegenstand der Forschung. Vernetzung lässt Privatheit nicht zu; die Frage, wie sich Vertrauen generieren lässt, ist vielmehr die Frage, wie sich mit der Introspektion inkommensurable Netzwerke so re-definieren lassen, dass die Fiktion des Privaten auch in einer virtuellen Umgebung funktioniert.
Da mein Selbst nichts Gegebenes ist, sondern lageabhängig von dem jeweiligen Beziehungsgeflecht, in dem ich mich bewege, kann ich der Technik immer nur in dem Maße vertrauen, wie sie mir einen entsprechenden Bindungsstil spiegelt und als Erwartungserwartung unterstellt. Mit Kapp sind wir zu der Erkenntnis vorgedrungen, dass eine Technik, die Misstrauen in uns hervorruft, auf den Selbstgebrauch zurückwirkt, dem sie umgekehrt ihre Entstehung verdankt. Dabei erkennen sich Men-schen in der Applikation, die ihnen positive Erwartungen entgegenbringt, ebenso wieder, wie in der Technik, die (wie in Matrix) die Menschheit versklaven will. Eben darin besteht die Paradoxie: Menschen anerkennen menschliche/nichtmenschliche Aktanten in dem Maße, wie sie sich in ihnen wiederfinden, vertrauen sie ihnen nicht, dann deswegen, weil sie mit ihnen allzu vertraut sind – umgekehrt bestünde kein Problem.
Spiegelt die Technik nicht jene Eigenschaften wider, die Menschen in sich entdecken oder empfinden möchten, wird sie als Fremdkörper oder Hindernis empfunden. Die Rollenstruktur, die mir das Medium auferlegt, wird von mir nämlich als ebenso real empfunden wie eine physikalisch existierende Institution oder normative Ordnung. Ich nehme sie nur dann nicht als einen äußeren Zwang wahr, wenn ich mich in ihr verwirklicht sehe. Menschen möchten nicht in erster Linie frei sein: sie gebrauchen den Begriff fälschlicherweise dort, wo sie de facto Selbstsein meinen. Um es in einem Satz zu sagen: Selbstsein ist ein Bindungsstil – Vertrauen sein Signum.
Kaum etwas belastet Menschen so sehr wie das Gefühl der Fremdbestimmung. Wenn ich weiß, dass etwas Teil meiner Lebenswelt ist, aber ich es nicht wahrnehmen kann, wird es mir zum Problem. Vorbehalte sinken in dem Maße, wie ich das Gefühl habe, die Technik kontrollieren zu können, auch wenn diese Option faktisch nicht besteht. Die Vorstellung einer »Nutzer-Herrschaft« ist angesichts der eigenen Verflochtenheit keine stimmige Idee, erfüllt aber, als nützliche Fiktion, eine sinnvolle Aufgabe: Sie nimmt mir die Angst.
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